Redaktionelle Transparenz als PR-Gag: Vizekanzler darf Bild-Zeitung im Newsroom „kritisieren“

22. September 2008 um 18:05 | Veröffentlicht in Ethik, Kapitel_7, Redaktion, Zeitung | 5 Kommentare

Nachtrag zu meinem Beitrag vom 8. September: Wie „redaktionelle Transparenz“ zu einem PR-Gag verkommen kann, zeigt beispielhaft die Bild-Zeitung: Die tägliche Blattkritik soll ab heute öffentlich von einem Prominenten übernommen werden. Sie wird als Video aufgezeichnet und ist ab 12 Uhr im Web zu sehen. Begonnen hat heute Bundesaußenminister und Vize-Kanzler Frank-Walter Steinmeier. Er ging sehr moderat und oberflächlich mit den Bild-Redakteuren um. Sogar Chefredakteur Kai Diekmann meinte: „Sie hätten ruhig noch viel strenger mit uns sein können.“ Wie wahr. Einerseits ist eine „öffentliche Blattkritik“ eine gute Idee, die redaktionelle Transparenz fördern kann, andererseits wird es wohl schwierig, in einem kurzen Videoclip kritisch in die Tiefe zu gehen und zu diskutieren – zumal wenn der Kritiker nicht als griesgrämiger Oberlehrer dastehen, sondern in einem Jahr den Bundestagswahlkampf gewinnen will.

Blogger sprechen heute von „unbezahlter Werbung“ (gemeint ist von Steinmeier für Bild, könnte man auch umgekehrt sehen), Journalisten von „Wattebäuschchen“ und der „üblichen Berliner Heuchelei“ (Hans Leyendecker, SZ).

Was wir daraus lernen? – Bild hat sich massiv gewandelt. Von der redaktionellen Festung (gegen Angriffe a la Wallraff) zur redaktionellen Marketing- und PR-Maschine mit ethischem Anstrich (vgl. Leserbeirat, Korrekturspalte, öffentliche Blattkritik).

Nachtrag I (4.12.08): Heute startet Bild die nächste PR-Staffel (genannt „Leserreporter“): Bei Lidl werden mehrere zehntausend Bild.de-Videokameras verkauft – zum Schnäppchenpreis von 70,- Euro. Das gedrehte Material wird beim Anschluss der Kamera an einen PC auf den bild.de-Videoserver übertragen. Chefredakteur Kai Diekmann hat die Kamera bei der Bambiverleihung ausprobiert und die gedrehten Videoschnipsel professionell schneiden lassen. Das Ergebnis ist technisch gesehen ziemlicher Schrott (Bildauflösung und vor allem der Ton!) – inhaltlich aber ganz unterhaltsam (vor allem weil das Material professionell geschnitten und untertitelt wurde). Reaktionen aus der Branche auf den PR-Gag: Der DJV erwartet (wieder einmal) den Untergang des professionellen Journalismus. Die Online-Chefredakteurin des Tagesspiegel, Mercedes Bunz, dagegen leuchtet die Hintergründe der Diekmann-Strategie aus und fordert zum Nachmachen auf. Die Süddeutsche regt sich dagegen auf: „Die Menschen beschweren sich derzeit, dass durch das BKA-Gesetz der nächste Schritt zum Überwachungsstaat getan wird und sich keiner mehr seiner Privatsphäre sicher sein kann. Über den Volksjournalismus à la Bild echauffiert sich kaum jemand. Und doch: Es ist der erste Schritt zur Überwachungszeitung.“

Nachtrag II (4.12.08): Bild hat mal wieder eine öffentliche Rüge vom Presserat kassiert – und Kai Diekmann regt sich fürchterlich auf. Sein Kronzeuge: Die betreffende Bild-Ausgabe hat ausgerechnet der Intendant des DeutschlandRadio, Ernst Elitz, in der öffentlichen Blattkritik besprochen – und sich damals gar nicht über die Berichterstattung beklagt. Im Gegenteil: Er lobt im Großen und Ganzen, kritisiert eher Kleinigkeiten; zur vom Presserat gerügten Geschichte sagt Elitz: „…eine textlich und fotomäßig sehr gut, bestens recherchierte Geschichte…sicher eine tolle Teamleistung”. Der Presserat sieht dagegen eine „unangemessen sensationelle Darstellung von Gewalt und Brutalität“. Elitz kontra Presserat also – und das alles aufgrund der Promi-Blattkritik.

Werbung

5 Kommentare

  1. […] Weiter: Zum ganzen Artikel […]

  2. Hmm, schade… heißt das also, dass „Der Aufmacher“ jetzt nicht mehr aktuell ist bzw. seine Gültigkeit verliert? Ich hab mir das Buch vor kurzem gekauft und mit großem Interesse gelesen (werde es heute im Zug nach Frankfurt fertig lesen).

    Tipp: Wer wahre Bild-Kritik möchte, kommt um den unterhaltsamen ‚Bildblog‘ sicher nicht drum herum.

  3. „Bild“ hat ja den Boulevard-Journalismus nicht aufgegeben, dessen Mechanismen im Buch „Der Aufmacher“ aufgedeckt und angeprangert werden. Insofern ist das natürlich noch aktuell. Was sich geändert hat, ist lediglich der Umgang mit der „Festung Redaktion“. Zum Beispiel war früher der so genannte „Balken“ – das Machtzentrum der Bild-Entscheider – ein Geheimbereich. Heute wird die Redaktion im Web-Video gezeigt, Besuchergruppen werden durch den Newsroom gelenkt und Promis zur Blattkritik eingeladen. Das ist redaktionelle Public Relations, die früher nicht denkbar war.

  4. Na immerhin ein Anfang. ;)
    Danke für die Infos!

  5. […] Zeitung | Leave a Comment Über redaktionelle Transparenz habe ich hier schon oft gebloggt: über Video-Blattkritik bei der Bild-Zeitung, über offene Redaktionen mit Videos aus Konferenzen und internen Diskussionen in Schweden und den […]


Sorry, the comment form is closed at this time.

Bloggen auf WordPress.com.
Entries und Kommentare feeds.

%d Bloggern gefällt das: